Die „Fließrichtung“ ist’s – darauf kommt es im Verhältnis von Individuellem und Kollektivem an

Wie entwickelt sich das Leben? Indem sich der Einzelne an die Gesellschaft anpasst oder umgedreht? Das ist nicht nur die „Grundfrage der Erziehung“, sondern auch ein leitendes Thema dieser ganzen Internetseite.

Es geht um beides, weil sich beides dialektisch durchdringt: Das Individuum entwickelt sich durch die Beziehungen zu anderen Menschen, also durch den Grad und die Qualität der Kollektivität seines Lebens. Und die Kollektive, Gemeinschaften und Gesellschaften entwickeln sich durch die individuellen Fähigkeiten ihrer Mitglieder. Damit sind wir auf der sicheren, „neutralen“ und dialektischen Seite. Wir müssen uns nicht festlegen, nicht Prioritäten setzen, sondern lassen alles, nach allen Seiten hin offen.

Ich hatte mich aber schon „festgelegt“, Partei ergriffen für das Primat der einen Seite gegenüber der anderen, im Prinzip in allen Beiträgen zum Thema „Zeitzeichen Autismus & Erziehung“, besonders aber in dem oben verlinkten („Die Grundfrage der Erziehung“) und in der kranken Gesellschaft. Nur dort – in diesen beiden Beiträgen – habe ich explizit das Wort „Fließrichtung“ gebraucht:

„Diese grundsätzliche Blick- und Fließrichtung des gesellschaftlichen Lebens [vom Gemeinschaftlichen zum Individuellen] bei uns gilt nicht primär, wie man denken könnte und sollte, für die, die aufgrund ihrer Beeinträchtigungen zu Opfern werden, sondern erstaunlicherweise mehr für die, die zu Tätern wurden, weil sie angeblich psychisch krank wären.“

Und da, in dieser Fließrichtung ist auch „die Katze beerdigt“ (oder der „Hund begraben“, wenn Sie nicht wie ich Katzenfan sind). Deshalb muss ich in diesem Beitrag noch einmal darauf zurückkommen. Sonst verschwimmt alles zu sehr dialektisch und alles und nichts ist wahr.

Das Verrückte ist, dass ich selbst ein ausgesprochener Individualist bin, mich immer am Rand der Gruppen aufgehalten hatte, zu denen ich gehörte. Aber deswegen wäre ich damals nie auf die Idee gekommen, einzelne individuelle Interessen oder auch ihre Summe über das Interesse der Gruppe (Familie, Klasse, Schule, Ort, Region, Nation) zu stellen. Heute mit der gesammelten Erfahrung eines Lebens tue ich das erst recht nicht.

Je kleiner eine Gruppe ist, desto eher ist die Ausnahme von der Regel möglich, dass sich doch einmal ein Einzelner über die Gruppe erheben muss (und soll und darf): Ein Mensch kann in eine sehr beschränkte Familie hineingeboren worden sein; er wird sich in seiner Jugend aus ihr befreien müssen und wollen, um ihr dann vielleicht später sogar als gleichberechtigter Partner behilflich sein zu können, die eigenen Beschränktheiten zu überwinden. Genauso kann ich Pech mit meiner Schulklasse haben, und in meiner Parallelklasse oder in einer unteren oder oberen sind viel (lebens)klügere „Burschen“ (männlich und weiblich).

Deswegen hatte der große ukrainisch-sowjetische Pädagoge Anton Semjonowitsch Makarenko immer die ganze Schule gemeint, wenn er vom „Kollektiv“ sprach. /1/ Er hat die generativen Altersunterschiede als eine Triebkraft der Persönlichkeitsentwicklung mitbedacht. Das Klassenkollektiv war bei ihm immer nur ein „Grundkollektiv“.

Wie individualistisch die westliche Pädagogik ist, zeigt sich schon daran, dass es bei ihr das „Kollektiv“ nur als  Klassen- und nicht als Schulkollektiv gibt. Das „Classroom-Management“ ergibt sich aus der Enge einer solchen Sichtweise. Viel wichtiger wäre ein Schul-Management, dass nicht jeder Lehrer das Rad für sich und seine Klasse neu erfinden muss, sondern gerade, weil schon viel in klassenübergreifenden Traditionen der Schule und benachbarter Jahrgänge geregelt ist, leicht noch besondere, individuelle Merkmale seiner Klasse hinzufügen kann.

Deswegen wird China den Kampf der Systeme gewinnen. Dort ist ganz klar geregelt, dass im Zweifel immer das Interesse der Gemeinschaft, der Familie, der Schule, der Nation über dem Interesse des einzelnen Ichs steht. Die Chinesen praktizieren das, was in Trumps Amerika auch immer mehr in den Blickpunkt gerät. John F. Kennedy hatte es schon gesagt:

„Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für dein Land tun kannst.“ Er soll es von einem Lehrer übernommen haben, dann passt es noch besser hierher. Wenn Sie „Land“ durch „Deutschland“ ersetzen, wird die ungeheuerliche Zumutung gegenüber den verwöhnten „Blagen“, wie Dieter Nuhr wahrscheinlich sagen würde, der deutschen Nation noch deutlicher.

Hier fließt das Leben ganz offensichtlich anders herum: Was kann ich denn bloß noch mehr für meine Kinder tun, fragen sich verzweifelte Eltern, bis sie von ihnen, wenn sie groß genug dafür geworden sind, im schlimmsten – aber gar nicht einmal so seltenen – Fall geschlagen werden.

Kinder und gerade die, die Probleme machen, da sie welche haben, weil sie keine Ordnung hatten, die sie hätten verinnerlichen können, müssen lernen, sich nach dem „auszustrecken“, was in der Gemeinschaft üblich ist, zu der sie gehören. Das gilt zumindest und zuerst in Bezug auf das Rücksicht-Nehmen gegenüber den Mitmenschen. Keine langen Begründungen, sondern Vorleben und Vormachen, wie es geht, und das mit dem optimistischen Gestus „Du gehörst zu uns und deswegen kannst du das auch“.

Allerdings: Und das haben die „guten Menschen“ noch nie verstanden: Ein Kind macht nur den nach, der stärker ist als es selbst und der sich zur Not durchsetzen kann, auf eine unaufgeregte, souveräne Art, die dann in der Regel auch sanft und ruhig bleiben kann. Das ist ein psychologisches Naturgesetz: Wir schauen nur zu dem auf, lernen nur von dem, der erfolgreicher ist als wir selbst es sind.

Im Gegensatz dazu besteht die Errungenschaft im westlichen, „freien“ Denken bei der Erziehung darin, zu begründen, warum ein Kind das gar nicht können kann, was es können soll, weil es nämlich ADHS und/oder Autismus (ASS) hat. Irgendein Grund findet sich immer, vielleicht auch die Pubertät oder dass ein Jugendlicher nicht mit seiner natürlichen Geschlechtlichkeit zurechtkommt. Alle diese Entwicklungskomplikationen sind etwas, das es über die Jahrhunderte vorher in Deutschland oder heute in China oder Indien kaum gab/gibt bzw. nur in einer solchen Form, die den Fortgang des gesellschaftlichen Lebens nicht wirklich, nicht in der Tiefe stört(e) und aufhielt/aufhält.

Eben deshalb, weil damals und dort sich die Menschen noch nach dem allgemein Üblichen „ausgestreckt“ haben und nicht umgedreht. Dem „fortschrittlichen“, freien Westen bleibt nichts anderes übrig, als sich zu wundern, dass sich die barmenden Prophezeiungen, wie furchtbar schwer das Leben durch ADHS, Autismus, Pubertät und Geschlechtlichkeit geworden sei, tatsächlich erfüllen und immer und immer noch mehr individuelle Psychologisierung und Heilpädagogisierung nötig sei, was dann die materiellen Möglichkeiten der Gesellschaft sprengt.

Deutschland wird von Jahr zu Jahr tiefer in der Rangreihe der Nationen bezüglich mathematischer und/oder sprachlicher Fähigkeiten seiner Jugend nach unten durchgereicht. Die Nr. 3 bezüglich des Bruttosozialprodukts in der Welt, nämlich Deutschland, wird bald nicht einmal mehr zu den ersten Zehn gehören.

Das hatte die DDR immer stolz von sich behauptet. Alles fügt sich. Wer DDR-Politik macht, landet schließlich auch auf dem Platz, der ihm gebührt.

Hauptsache, wir haben hier in Deutschland den CO-2-Ausstoß verringert, weil der ja auch an der Grenze Halt macht, und Hauptsache, wir hatten alle individuellen Entwicklungsbesonderheiten der Kinder berücksichtigt. Hauptsache, die ganze Gesellschaft hatte sich genug zu ihren individuellen Problemfällen hin ausgestreckt. Das sei die Garantie für ein erfolgreiches gutes Leben, sagen unsere demokratischen Eliten der „Mitte“ (also unsere „Mittemäßigen“).

Nein, das ist Dekadenz, westliche Dekadenz, ein Scheitern in und an der Vollversorgung, ein Scheitern in und durch Überdruss, durch Langeweile, weil das Leben sowieso gesichert ist, egal was einer macht oder nicht. Wer den individuellen Anspruch auf ein schönes Leben, das für die Mehrheit der anderen Erdenbewohner schon der reine Luxus ist, für wichtiger hält als gesellschaftliche Notwendigkeiten, muss und wird scheitern.

Es war im Februar 1978. Ich war mit dem Zug unterwegs. In Angermünde blieben wir in Schneewehen stecken. Wir haben in einer Gaststätte übernachtet. Ich hatte meinen Trabbi in der Nähe vom Bahnhof abgestellt. Ein junger Mann, den ich gerade erst dort kennengelernt hatte, und ich beschlossen, es zu riskieren und mit meinem Trabant am nächsten Morgen bei Sonnenschein einen „Ausbruchversuch“ zu unternehmen. Damals gab es in der DDR noch keine Winterreifen. Ich wusste, dass ich nicht zum Stehen kommen durfte, weil ich dann das Anfahren mit durchdrehenden Rädern nicht geschafft hätte.

Ich hatte mich seit Jahren nicht mehr so lebendig gefühlt. Ein Räumpanzer kam uns entgegen, wir rutschten in den Straßengraben. Ein netter Traktorfahrer von der LPG holte uns wieder heraus. Beim Anbringen des Abschleppseils verlor ich ein Brillenglas; egal, das war Leben, und wir schafften es wenigstens wieder zurück zum Bahnhof. Am nächsten Morgen bin ich die 25 Kilometer durch eine freundliche Winterlandschaft nach Hause gewandert, und ich habe es geschafft. Das Auto habe ich später nachgeholt.

Ich bin überzeugt, wenn man apathische Menschen, die zu nichts Lust haben und sich zu nichts aufraffen können, vor eine solche Herausforderung stellen würde, sie zum Beispiel im Zelt mit einem Schlafsack zu zweit im tiefen Wald zurücklassen würde, mit nur einem Brot und Wasser, sie würden sich aufraffen, sie würden wieder „aufwachen“ und lernen, die Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen, ohne Sozialarbeiter, die ständig und immer für sie „da sind“.

Ich halte mich für einen „Schulmeister“ der alten Garde, für einen erfahrenen „Handwerker der Erziehung“. Es gehört zu meinem Berufsstolz, intuitiv zu erahnen, was ein junger Mensch, den ich erziehe, gut ertragen kann, wenn ich ihn zu einer höheren Stufe seiner Persönlichkeitsentwicklung führe. Und sicherheitshalber nehme ich schon eine Spanne vorher Druck heraus. Die Kunst ist, neben der Intuition, die nötige, optimistische Geduld zu haben und dann immer wieder neu, Stück für Stück, anfangen zu können.

Insofern kann und will ich persönliche, individuelle Besonderheiten beachten beim Ausrichten eines einzelnen jungen Menschen auf die Gemeinschaft hin, ohne ihnen aber medizinische Namen geben zu müssen und zu wollen.

 

Fußnote

/1/ Von ihm gab es im Übrigen in der Bundesrepublik Deutschland früher und vollständiger eine Werkausgabe auf Deutsch als in der DDR.

9 Kommentare zu “Die „Fließrichtung“ ist’s – darauf kommt es im Verhältnis von Individuellem und Kollektivem an”

  1. Bernd Günther sagt:

    Lieber Karl,

    ich verstehe deinen Text so: Du beschreibst ein Erlebnis, in dem Herausforderung und Risiko für dich zu einem Gefühl von Lebendigkeit geführt haben. Diese Szene ist stark und nachvollziehbar.

    Worüber wir uns unterscheiden, ist nicht das Erlebnis selbst, sondern die Folgerung daraus.
    Für dich wird daraus ein allgemeines pädagogisches Prinzip:
    Herausforderung macht wach. Unterstützung macht abhängig.

    Meine Erfahrung – und auch die Forschung der letzten Jahre – zeigt ein differenzierteres Bild:

    – Es gibt Menschen, die unter Druck wachsen.
    – Es gibt Menschen, die unter Druck zusammenbrechen.
    – Und es gibt viele, die beides in sich tragen – je nach Situation, Geschichte und innerer Verfasstheit.

    Deshalb ist für mich nicht die Frage: „Härte oder Unterstützung?“
    Sondern: Was braucht dieser konkrete Mensch, in diesem Moment, um handlungsfähig zu werden?

    Das ist keine „Verweichlichung“, sondern die Anerkennung, dass Menschen verschieden sind.
    Auch Diagnosen sind für mich kein Etikett, sondern ein Werkzeug, um Unterschiede sichtbar zu machen, damit wir präziser begleiten können.

    Ich teile dein Anliegen, junge Menschen zu Selbstständigkeit und Verantwortung zu führen.
    Ich komme nur über einen anderen Weg dorthin:
    Nicht über Druck als Standard, sondern über Passung, Beziehung und abgestufte Zumutung.

    Wir meinen in vielem dasselbe – aber wir setzen an unterschiedlichen Stellen an.

    Wenn du willst, können wir genau das weiter besprechen:
    Nicht ob Herausforderung wichtig ist, sondern wann, wie und für wen sie hilfreich wird.

  2. Karl sagt:

    Lieber Bernd,
    um zu wissen, dass es Menschen gibt, die unter Druck wachsen und welche, die unter Druck zusammenbrechen, brauche ich keine „Forschung“.
    Für mich brennt die deutsche „Hütte“, und das ist keine Frage fachlicher Diskrepanzen, sondern eine politischer Weichenstellungen. Du scheinst dein Selbstwertgefühl zu nähren, indem du dich als „Therapeut“ fühlst und so argumentierst. Das interessiert mich wenig, weil es der 3. Schritt vor dem 1. ist.
    Ich sehe mich als „Politiker der Erziehung“, deshalb interessiert mich auch primär die gesellschaftliche Ebene vor jeder individuell-therapeutischen. So lange wir da nicht übereinkommen, hat eine Diskussion keinen Sinn.

  3. Bernd Günther sagt:

    Lieber Karl,

    ich sehe, dass du das Thema auf eine politische und gesellschaftliche Ebene stellst.
    Das respektiere ich. Und ja: Es gibt Weichenstellungen, die darüber entscheiden, wie wir als Gesellschaft leben wollen.

    Nur möchte ich eine Unterscheidung festhalten:

    Politische Erziehungsziele sagen wohin wir wollen.
    Pädagogische und therapeutische Praxis entscheidet wie ein einzelner Mensch diesen Weg gehen kann.

    Beides gehört zusammen.
    Die gesellschaftliche Ebene beantwortet nicht automatisch die Frage, was ein konkreter Mensch in einer konkreten Situation braucht.

    Wenn die „Hütte brennt“, wie du sagst, dann brauchen wir sowohl klare politische Linien
    als auch eine Praxis, die Menschen nicht verliert, die verletzt, erschöpft oder anders strukturiert sind.

    Ich nähre mein Selbstwertgefühl nicht aus der Rolle des „Therapeuten“.
    Ich arbeite seit Jahren an der Schnittstelle zwischen Lebensrealitäten von Menschen und den Systemen, die sie prägen.
    Das ist kein dritter Schritt vor dem ersten, sondern derselbe Weg – nur aus einer anderen Blickrichtung.

    Ich bin bereit, über die gesellschaftliche Ebene zu sprechen.
    Aber ich werde nicht ausblenden, dass Menschen unterschiedlich sind.
    Gerade deshalb brennt die Hütte nicht nur politisch, sondern auch menschlich.

    Wenn wir das anerkennen können, haben wir eine gemeinsame Sprache.

    Bernd Günther

  4. Karl sagt:

    Das Leben ist lustig. Du kommst mir vor wie ein Gewerkschafter, der nicht begreifen will, dass die fetten Jahre vorbei sind und unverdrossen weiter auflistet, was die Leute, die er vertritt, für ein gutes Leben brauchen würden.
    Oder wie ein 12-jähriger Junge, der seinem Vater erklärt, dass er dringend mindestens das doppelte Taschengeld braucht. Und er macht es konkret: Er führt auf, was seine Klassenkameraden alles haben und worauf er als Indivuduum und Mensch nun genauso ein Recht habe. „Mein Sohn, wir bauen ein Haus, und wir sind hochverschuldet. Deswegen ist es nicht wichtig, was du ‚brauchst‘, sondern nur, was wir haben, was wir dir geben können, damit du später mal ein schönes Haus erben kannst.“
    Ähnlich dümmlich argumentieren Bürgergeldempfänger, die vorrechnen, warum der monatliche Betrag nicht reichen kann. Das ist eine unwichtige Rechnung, weil das einzig Ineressante ist, über wie viel Geld ein Staatshaushalt verfügt.
    Was hat das mit unserer Erziehungsdiskussion zu tun? Auch hier zeigt sich die dekadente Geisterfahrerlogik des „Westen“. Angel- und Ausgangspunkt sei, was ein Einzelner „braucht“. Die Gesellschaft hat ihm hinterherzugehen, das aufzuspüren und ihm zu geben. Wenn nicht, würde alles noch viel teurer werden.
    Nein, das müssen wir umdrehen, diese Fließrichtung vom Allgemeinen zum Einzelnen, dass sich die Gesellschaft dem Individuum anzupassen habe, müssen wir umkehren. Die Mentalität, die damit verbunden ist, legt sonst alles lahm. Menschen müssen wieder lernen, sich von ihren Besonderheiten hin zu dem zu bewegen, was eine Gemeinschaft, Familie, Schule, Nation braucht.
    Erst wenn das das Primäre, die Grundlage ist, ist es sinnvoll, von der Gemeinschaft aus Einzelne abzuholen. Du, lieber Bernd, willst das von vornherein und bedingungslos mit viel Einfühlung tun. Das gefällt den Abgeholten, aber es entwickelt eine Kultur des Abwartens. Ich habe einen Anspruch darauf, ich warte auf der Bank an der Haltestelle, bis der soziale Bus kommt, gehe ihm keinesfalls ein Stück entgegen und dann etwa noch auf den eigenen Beinen.
    Aber was ist mit denen, die gar keine eigene Motivation mehr haben? Wenn es um die Existenz geht, um Hunger und Durst, kommt die Motivation wieder, bin ich überzeugt, und dabei können einfühlsame Mitmenschen den Demotivierten auch zur Seite stehen, aber ohne ihnen die Arbeit abzunehmen, die sie selber erledigen könnten, wenn sie es nur wollten oder mangels Alternativen wollen müssten.
    Außerdem erübrigt sich die Diskussion sowieso. Wir haben gar nicht mehr das Geld, jeden, der das eigene Laufen verweigert, mit dem Bus abzuholen. Wenn sich das erst einmal herumgesprochen hat, wird die Zahl der Laufverweigerer massiv abnehmen. Das ist wie bei einer Suchttherapie: Nur wenn die Teilnehmer wissen, dass jeder, der rückfällig wird, rausfliegt, steigt die Motivation so weit, wie das für einen Erfolg notwendig ist.
    Solange noch Geld da ist, können wir gern Gescheiterte auffangen, wenigstens Verständnis für ihr Scheitern haben, wenn wir ihnen schon nicht über die Schwelle zum Erfolg helfen können. Aber vergessen wir dabei bitte nicht die anderen Kranken, Lebensangeschlagenen, Beeinträchtigten, von denen es im „Westen“ immer mehr gibt. Wenn schon Einzelfallhilfe, dann für jeden (auf der Welt), womit sie sich selbst ad absurdum führt.

  5. Bernd Günther sagt:

    Lieber Karl,

    du argumentierst aus einer Perspektive, in der die Gemeinschaft das Primat über das Individuum hat.
    Ich argumentiere aus einer Perspektive, in der Gemeinschaft nur dann stabil bleibt, wenn sie die Unterschiedlichkeit von Menschen mitdenkt.

    Das sind zwei verschiedene Menschenbilder.
    Sie lassen sich nicht „gegeneinander gewinnen“.
    Sie führen schlicht zu unterschiedlichen Formen von Erziehung.

    Ich sehe nicht, dass wir hier zu einer gemeinsamen Grundlage kommen können – und das ist in Ordnung.
    Ein Gespräch muss nicht zwangsläufig zu einer Einigung führen, um sinnvoll gewesen zu sein.

    Ich lasse es an dieser Stelle stehen.

    Bernd

  6. Marlen sagt:

    Nun, ihr beiden Wortakrobaten, euer Diskurs über Individualität und Gemeinschaft hat mich angeregt, einiges in Erfahrung zu bringen. Nun weiß ich etwas mehr darüber, will das aber gar nicht darlegen.

    ich habe drei gesunde Enkeltöchter, die einzigartig und sehr individuell sind und sich
    problemlos in jeder Gemeinschaft wohlfühlen.

    Und dann bekam ich zuletzt noch einen Enkelsohn mit Autismus, der ganz besonders und eigenartig ist, mit einigen Defiziten, die ihm das Leben allgemein und insbesondere in einer Gemeinschaft schwerfallen lässt.
    Ließe man ihn mit seinen individuellen Besonderheiten aufwachsen, würde er von allen seinen Mitmenschen abgelehnt, da er zu spontanen Aggressionen neigt und keinen Anweisungen und Ratschlägen folgt, sondern nur seinen eigenen Bedürfnissen nachgehen möchte. Er ist das einzige Kind von späten Eltern, deren große Rücksichtnahme aus Liebe ihn zwar als recht glückliches Kind aufwachsen ließen, ihn aber so nicht ausreichend vorbereiten auf sein eigenes individuelles Leben ohne Eltern innerhalb der Gesellschaft.
    Seine mathematische Inselbegabung könnte ihm eventuell später einmal zum Vorteil gereichen, wenn er sie nicht nur zum Selbstzweck nutzt, sondern sie zweckmäßig in die Gesellschaft einbringen könnte.

    Das heißt aus meiner Sicht, er muss entgegen seiner Individualität dazu erzogen werden, dass er gemeinschaftsfähig ist und lernt, Regeln einzuhalten und auf andere Rücksicht zu nehmen. Das fällt ihm sehr schwer, und dafür braucht es viel Liebe und Zuwendung, aber auch die nötige Konsequenz, bis hin zu Maßnahmen, die rituell bei Nichteinhaltung durchgeführt werden. Ihn so zu lassen, wie ihn die Natur schuf, sich ihm anzupassen, würde letztendlich eine Ausgrenzung aus der Gemeinschaft bedeuten. Und das fände ich wesentlich verwerflicher, als während seiner Kindheit und Jugend korrigierend in seine Individualität einzugreifen.

    Dass insgesamt der Einzelne mit seinen individuellen Besonderheiten, Begabungen und Talenten, aber auch mit Defiziten, jetzt viel mehr gesehen wird und Beachtung findet, ist sehr gut. Es sollte aber nicht dazu führen, wie es mir derzeit scheint, dass dem Einzelnen suggeriert wird, die Gesellschaft ist dafür zuständig, dass er sich „selbst finden und verwirklichen“ kann, ohne sich nach den Regeln und Bedürfnissen der Gesellschaft richten zu müssen.
    Eine solche Gesellschaft muss zwangsläufig scheitern, da sie ja nur die Summe solcher egozentrischen Individuen ist.
    Soll heißen, der Einzelne und die Gesellschaft stehen in einem dialektischen Verhältnis, eine Seite bedingt die andere.
    Auch die moderne westliche Gesellschaft wird dieses Gesetz nicht ignorieren können, oder habe ich da etwas falsch verstanden?

  7. Bernd Günther sagt:

    Liebe Marlene,

    ich danke dir sehr für deine ehrlichen und nachdenklichen Worte. Man spürt, dass du aus tiefer Verantwortung sprichst – nicht theoretisch, sondern aus Erfahrung. Und genau das macht den Dialog so wertvoll.

    Ich möchte trotzdem einen Gedanken hinzufügen, der mir wichtig ist.
    Die Haltung, dass Kinder – besonders solche mit besonderen Bedürfnissen – sich in erster Linie an die Gemeinschaft anpassen müssen, stammt aus einer Zeit, in der man glaubte, dass gesellschaftliche Ordnung durch Disziplin entsteht. Dieses Denken hat in Deutschland eine lange Tradition – von der „sozialistischen Erziehung zur Kollektivfähigkeit“ bis hin zu heutigen Leistungslogiken, die auf Funktionsfähigkeit zielen.

    Aber psychologisch wissen wir heute: Menschen wachsen nicht durch Anpassung, sondern durch Resonanz.
    Ein Kind, das erst gezwungen wird, Regeln zu befolgen, lernt vielleicht Konformität, aber nicht Selbstvertrauen.
    Ein Kind, das sich verstanden fühlt, kann dagegen innere Stabilität entwickeln – und erst dann Verantwortung übernehmen.

    Insofern sehe ich es fast umgekehrt:
    Nicht die Gemeinschaft formt das Individuum, sondern das Individuum stärkt die Gemeinschaft, wenn es sich in seiner Eigenart entfalten darf.
    Sonst riskieren wir, dass Anpassung als Tugend verkauft wird – und Menschen später funktionieren, aber innerlich leer bleiben.

    Ich habe in meiner Arbeit viele Jugendliche erlebt, die äußerlich brav waren, aber innerlich keine Stimme mehr hatten. Die eigentliche Aufgabe der Pädagogik ist nicht, sie „zurechtzurücken“, sondern ihnen zu helfen, ihren inneren Kompass zu finden – damit sie freiwillig Teil einer Gemeinschaft sein wollen.

    Das ist keine romantische Idee, sondern das, was moderne Entwicklungspsychologie und Traumaforschung immer wieder bestätigen.
    Und vielleicht ist das, was du „Einfühlung“ nennst, gar kein Gegensatz zu „Konsequenz“, sondern deren Voraussetzung.

    Mit herzlichem Gruß
    Bernd

    Interessante Quellen:

    Gerald Hüther – Biologie der Angst (2004): Zwang erzeugt Stress; Lernen gelingt nur in angstfreien Beziehungen.

    Joachim Bauer – Warum ich fühle, was du fühlst (2005): Spiegelt das Prinzip der Spiegelneurone – Grundlage empathischen Lernens.

    Jesper Juul – Dein kompetentes Kind (1997): Achtung vor der Individualität des Kindes als Voraussetzung für soziale Reifung.

    Christa Uhlig (Hg.) – Pädagogik in der DDR (2000): Zeigt, wie „Kollektivfähigkeit“ als oberstes Ziel definiert war.

    Erich Fromm – Die Furcht vor der Freiheit (1941): Psychologische Erklärung, warum Menschen Sicherheit in Anpassung suchen – und warum das gefährlich ist.

  8. Marlen sagt:

    Danke, lieber Bernd, dass du meinen Beitrag wahrgenommen hast. Kennst du ein autistisches Kind?

    Wenn ja, dann kennst du nur das eine, denn ein jedes ist anders. Und da du meinen Enkel nicht kennst, können wir nicht über ihn debattieren.
    Ich kenne ihn seit seiner Geburt, er ist jetzt im 10. Lebensjahr, habe seine Entwicklung weitestgehend verfolgt und seit mehr als zwei Jahren hautnah miterlebt.

    Deshalb weiß ich, dass deine schönen Theorien leider nicht praktikabel sind. An der Uni München diagnostiziert und auch weiterhin von dort betreut, bin ich mir sicher, dass alles auf dem neuesten Stand der Wissenschaft für meinen Enkel getan wird. Das hat schon längst nichts mehr mit den Erziehungsmethoden zu tun, die wir früher praktizierten.

    Er soll sich ja auch gar nicht kollektiv anpassen, sondern nur befähigt werden, mit anderen gemeinsam zu lernen, ohne dass er seine Aggressionen an seinen Mitmenschen auslässt. Und da ist bei einem Autisten die Einübung bestimmter Rituale und Verhaltensregeln unerlässlich. Wie sollte es sonst gehen?
    Einmal 24 Stunden, einschließlich Schulbesuch, mit meinem Enkel verbringen, könnte dir wahrscheinlich zu ganz neuen Sichtweisen verhelfen.

    Wie heißt es doch: Grau ist alle Theorie!
    Die Buchempfehlungen kann ich leider auch nicht realisieren, da momentan mein Tagesablauf mit praktischen Aufgaben voll ausgefüllt ist, und am Abend möchte ich dann entspannen, ohne Fachliteratur.

    Gut, dass wir uns mal ausgetauscht haben, es regt zum Nachdenken an und verhilft manchmal zu einer neuen Sichtweise.

    Herzlichst von Marlen

  9. Bernd Günther sagt:

    Liebe Marlene,

    ich danke dir sehr für deine offene, ehrliche und respektvolle Antwort. Und ich schätze es, dass du so klar von deinem Enkel sprichst — man merkt in jedem Satz, wie sehr dir seine Entwicklung, sein Wohlbefinden und sein Weg in die Gemeinschaft am Herzen liegen.

    Du fragst, ob ich ein autistisches Kind kenne.
    In den letzten fast 30 Jahren habe ich nicht nur eines kennengelernt, sondern Hunderte — Kinder, Jugendliche und Erwachsene, oft über viele Jahre hinweg. Immer in engem Kontakt zu ihren Familien, zu Lehrern, Therapeutinnen, Integrationskräften, Jugendämtern, Kliniken und Schulen.
    Viele davon hochfunktional, viele tief beeinträchtigt, einige mit schweren Komorbiditäten — Aggressionen eingeschlossen.

    Und du hast völlig recht:
    Jedes autistische Kind ist anders.
    Gerade deshalb habe ich gelernt, dass ich keine Theorie „überstülpen“ kann, sondern zuhören muss, hinsehen, verstehen — und immer mit den Eltern gemeinsam herausfinden, was für dieses Kind funktioniert.

    Deshalb widerspreche ich dir nicht.
    Ich ergänze.

    Ich sage nicht: „keine Rituale, keine Struktur“.
    Im Gegenteil:
    Struktur ist oft der einzige Boden, auf dem Autisten stehen können.

    Aber ich habe in meiner Arbeit sehr oft erlebt, dass Rituale und Regeln nur dann wirksam werden, wenn das Kind zuerst emotional reguliert ist — wenn die Beziehung stimmt.
    Dann entstehen Kooperation und Lernfähigkeit.
    Ohne diese Basis werden selbst die besten Programme zu nochmaligem Stress — und Stress verschärft Aggression.

    Ich bin sicher, dass die Kolleginnen der Uni München vieles davon berücksichtigen.
    Ich kenne deren Leitlinien, und sie sind grundsätzlich gut.
    Aber so wie du deinen Enkel kennst, kenne ich den autistischen Alltag so vieler anderen Familien — und weiß deshalb, dass nicht alles, was in Kliniken oder Diagnostikzentren geplant wird, im Alltag gelingt oder hilfreich ist.

    Vielleicht kommen unsere Perspektiven genau von diesen beiden Seiten:

    du aus dem gelebten Alltag eines Kindes,

    ich aus der Vielfalt von vielen Wegen, vielen Kindern und vielen Narrativen,
    die mir zeigen, dass Aggression fast immer eine Überwältigungsreaktion ist — kein böser Wille, sondern Überforderung.

    Mich freut, was du schreibst:

    > „Gut, dass wir uns mal ausgetauscht haben. Es regt zum Nachdenken an.“

    Genau so empfinde ich es auch.
    Und ich glaube, Verschiedenheit der Sichtweisen ist keine Bedrohung, sondern ein Gewinn — gerade für Kinder, die unsere Flexibilität und unser gemeinsames Nachdenken brauchen.

    Herzlich
    Bernd

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